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Ist Krautrock heilbar.

Sauerkraut schmeckt streng. Man bezieht es in der Blechkanne bei Otto Mess, aus dem Fass im Brauhaus, offen im Biomarkt. Sauerkraut ist in strenge Streifen geschnitten. Das erlaubt, es in großer Formvarietät anzurichten: als wirbelnden Strudel, als ornamentale Barockarchitektur oder auch in strenger Symmetrie. Darüber hinaus verbirgt Sauerkraut eine zweite Schönheit: die inneren Werte. Mineralstoffe, viererlei Vitamine, kaum Kalorien.

Der Krautrock. Der Krautrock ist ein eng geschnittenes Kleidungsstück, das man sich nicht ausgesucht hat; ähnlich dem Britpop wird es einem über die Ohren gezogen, und damit ist gut. Die Begrifflichkeit Krautrock ist nicht wirklich despektierlich gemeint; sie dient schlicht einer Kanonisierung, sie ist eine Schublade, die das Leben der Menschen und den Austausch untereinander erleichtern soll.

Wie aber kam der Deutsche zum Kraut. Als man im 18. Jahrhundert in der christlichen Seefahrt versuchte, den Vitaminmangel-bedingten Zahnausfall, vulgo Skorbut, zu kurieren, gab es den royalistischen und den kaiserlichen Weg. Der Brite griff zur Limette, der Deutsche zum Sauerkraut. Der Brite nannte den Deutschen kraut, der Deutsche den Briten limey.

Dass es im letzten Jahrhundert nie zum Limerock kam, liegt an der popkulturellen angloamerikanischen Vormachtstellung nach WW2. Nur zu recht, nach der Bresche, die unsere Kulturnation in die Welt geschlagen hatte.

Wie aber klingt Krautrock. Die Schublade bietet Platz für mancherlei: vom niederrheinischen Büroangestellten Ralf Hütter über den preussischen Anarchosyndikalisten Rio Reiser bis hin zum schwabo-bajuwarischen Ziegenhirten Florian Fricke. Was sie eint: ein kontinentaler Blick auf die Welt, eine falsch transkribierte Internationalität bei gleichzeitig linkem Bewusstsein (in der Regel), eine gewisse Besessenheit, eine Form von Disziplin und tüfteliger Frickeligkeit, eine Technikaffinität bei gleichzeitig fehlender Virtuosität - eingebettet in ein Ordnungssystem nach den Prinzipien von Albert Hofmann (CH) und Adolf Loos (A). Kurzum alles, was der Brite im Pop nicht kann.

Ist Krautrock heilbar? Natürlich nicht. Und natürlich ist Krautrock nicht nur ein Anzeiger für Musik. Karl Lagerfeld, Stephan Schneider, Dirk Schönberger tragen ihn. Fassbinder: Krautrock. Der März Verlag: Krautrock. Polke, Richter, Trockel: Krautrock. Die Becherklasse? Ganz klar Krautrock.

Die Schüler kamen mit ihrer verbogenen individuellen Optik an die Akademie, wo ihr Blick geschärft wurde. Natürlich klapperten sie erstmal die unmittelbare Nachbarschaft ab, bevor sie mit dem VW Transporter in die weite Welt hinein zogen (oder ins Netz). Sie lernten Sehen, behielten aber ihre deutschen Blicke. So fanden sie zu einem neuen Vermessen: honi soit, wer es als Verherrlichung interpretiert, denn der Geist ist zumindest ein aufrecht sozialdemokratischer - wie beim Sauerkraut. Und gleich ihm ordneten sie ihre Bilder: als wirbelnde Strudel, als ornamentale Barockarchitektur, in strenger Symmetrie. Und auch hier ging die äussere mit der inneren Schönheit Hand in Hand - die schillernde Oberfläche flaniert mit einem historisch-bedingten leicht schlechtem Gewissen durch die Auslagen der Sichtbaren Welt. Das Grau in Struths Straßenzügen, mahnt uns, dass der Westen und die BRD auch nicht bunter waren als der Osten und die DDR; das gesammelte Wissen dieser Welt liegt in Candida Höfers Bibliotheken begraben; wir suchen in den romantischen Landschaftsmotiven von Thomas Ruff Grausamkeit und Verbrechen; wo seine Montagen versuchen, zusammenzuflicken, was längst in tausend Teile zersplittert ist. Beruf: Reporter. Auftrag: Dossiers Anlegen; mal mit sichtbarem Riss, mal spurlos zurechtgerückt. Wir bauen eine Neue Welt. Unser Blick aus einem Hotelfenster in Singapore sagt nicht, oh, ein Motiv für Andreas Gursky, sondern einfach nur Gursky - es ist. Es hat sich etwas gedreht. In unserer Wahrnehmung.

Will man der Düsseldorfer Fotografie mit Krautrock Düsseldorfer Provenienz Herr werden, dann, um mal zwei (mal zwei) prominente Beispiele zu nennen, ist Gursky Kraftwerk («Ananas Symphonie») und Ruff Klaus Dinger («Dampfriemen»). Also hier die slicke Oberfläche, präzise, makellos, die neuesten technischen Errungenschaften nutzend, die totale Überhöhung, jeder neue Entwurf löscht den vorhergehenden aus; für den, der einmal verstand, es zu lesen, frei von jeder Überraschung, aber immer auch überzeugend und voll beeindruckender Kraft. Dort Ruff, natürlich eine Idee verfolgend, dabei aber Haken schlagend, verheddert er sich im Dickicht, experimentiert mit der noch verwegensten optischen Technik, stellt angstlos beknackte Bildideen in die Öffentlichkeit, rätselhaft und wunderbar uneindeutig. Zwischen diese beiden Positionen mag, wer will, alle Fotografen der Becherklasse eingliedern. Hoderlein: 70% KW, 30% KD; Sasse: 85% KW, 15% KD etcetera.

Natürlich hat jeder von ihnen etwas von Kraftwerk. In der Präzision, im Seriellen, in der Laborarbeit, im Frickeln, im etwas Steifen, im Umgang mit Technik und Alchemie. Und, natürlich, im großartigen, bescheuert deutschen Blick.

Nächste Folge: Ananas, Dampfriemen, Koksknödel.

 

Andreas Reihse, in: KRAUT, Magazin für angewandte Kultur, 01, September 2010

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